Aus der Tradition der Arbeiterbewegung heraus, war jeder, der den politischen Befreiungskampf der Arbeiterklasse hemmte oder sogar bekämpfte, der Feind dieser Klasse, also ein Klassenfeind. Da sich die DDR als Staat der Arbeiter- und Bauernklasse ansah, wurde der Begriff Klassenfeind auch auf alle diejenigen angewendet, die
- die Entwicklung des sozialistischen Aufbaus im Inneren des Landes behinderten
- bzw. die von Außen das Wohlergehen der DDR störten und seine staatliche Anerkennung im kapitalistischen Ausland behinderten.
Der Begriff „Klassenfeind“ wurde kaum konkret angewendet. Es war beispielsweise nirgendwo zu lesen oder zu hören, dass der deutsche Bundeskanzler ein Klassenfeind sei. Wahrscheinlich sollte es immer in der Schwebe bleiben und möglichst viele Deutungsmöglichkeiten haben, wer denn nun eigentlich gemeint sein könnte. Dennoch war eine Deutungsrichtung aus offiziellen Reden von Partei- und Staatsführern immer klar herauszulesen: der gefährlichste und größte Feind war der westliche Nachbar, die BRD, insbesondere deren „revanchistische“ Regierung.
Im Sprachalltag wurde der Klassenfeind häufig durch folgende Formulierungen näher charakterisiert: „Der Klassenfeind schläft nie“ und „Der Klassenfeind hört mit“. Dieser dinglich nicht fassbare Klassenfeind war, wie Partei und Regierung unermüdlich betonten, für das Wohl der DDR kreuzgefährlich. DDR-logische Konsequenz aus diesem Angstgefühl heraus waren Abwehr- und Schutzmaßnahmen. Nicht nur jedem Kommunisten, sondern auch jedem Bürger der DDR oblag eigentlich die Pflicht, wachsam zu sein.
Aber darauf allein war wohl nicht ausreichend Verlass. Das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) übernahm den Schutz vor dem inneren Klassenfeind und sollte die Aktivitäten des äußeren Klassenfeindes durch Spionage und Spionageabwehr verhindern. Die Grenztruppen an Mauer und Stacheldraht verhinderten das Ausbrechen des inneren Klassenfeindes und das Einbrechen des äußeren. Und die NVA trat gemeinsam mit den anderen Armeen des Warschauer Vertrags für den Schutz des „Weltsozialismus“ vor dem Klassenfeind in aller Welt ein.
Nach der Meinung des Volkes war der Klassenfeind Nr. 1 jedoch ein ganz anderer. Er hatte auch regelmäßig großen Erfolg und fügte der DDR unermesslichen Schaden zu. Weder Stasi, noch Grenztruppen, NVA oder noch so große Wachsamkeit der Bürger konnten das verhindern. Der Klassenfeind und Staatsfeind Nr. 1 war der Winter. Spötter sagten: „Sobald eine Schneeflocke hochkant auf die Schienen fällt, liegt die DDR-Wirtschaft am Boden.“ Die Energieversorgung war nämlich in großem Maße von der Braunkohle abhängig, die in Tagebauen gefördert wurde und per Schiene zu den Kraftwerken transportiert werden musste. Schnee und Frost verhinderten jedoch regelmäßig Kontinuität in der Kohleförderung, im Kohletransport und damit in der Bereitstellung elektrischer Energie. |