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  3. Sitten und Bräuche  
  c. Heiligabend und Weihnachten  

Und endlich, endlich war es dann soweit: der Heiligabend war gekommen! Wenn auch der Tag begann wie jeder andere, so war es doch kein Tag wie jeder andere. Nicht für uns Kinder! War schon die Adventszeit, die Zeit der Erwartung, ein wenig feierlich, dieser Tag war es allemal. So [...] voller Spannung konnte gar kein anderer Tag sein. Mittags gab‘s Pellkartoffeln mit loser Wurst, oder auch Knieperkohl. Traditionsgemäß! (So, wie es Karfreitag üblich war, Fisch zu essen.)

Die Spannung indes wuchs von Stunde zu Stunde. Unmöglich, sich an diesem Tage noch zu streiten oder zu zanken. Der Weihnachtsmann hätte alles gesehen! Das wurde uns jedenfalls immer wieder versichert [...]. Und wer hatte schon Lust, es sich noch am letzten Tag mit ihm zu verderben? Also waren wir artige Kinder. Streiten und zanken konnten wir ja später wieder, wenn alles vorbei war. Ein ganzes Jahr lang! Jedenfalls wurde nie versucht, uns damit zu schrecken, dass der Weihnachtsmann auch in der Nichtweihnachtszeit ein Auge auf uns hätte. Ich muss schon sagen, wir waren gutgläubige Kinder. Hätte man uns aber den guten Alten das ganze Jahr über als Schreckgespenst offeriert, wäre das sicherlich sowohl unserer Gutgläubigkeit als auch dem Ansehen des Alten nicht gut bekommen. So mussten denn stellvertretend für ihn, zeitweise der Osterhase und der Pfingstochse herhalten, uns ständig zu beobachten. Und ich muss gestehen, dass uns das auch ein wenig Achtung einflößte. Das änderte sich mit zunehmendem Alter und − dem Märchenalter entwachsen − waren wir auch damit nicht mehr zu schrecken.

Heiligabend. Bescherung schon am Nachmittag? Oder am frühen Abend? Nein! Kirchgang war angesagt. Die Vorbereitung dazu spielte sich im Hause der Großmutter ab. In der Küche war nachmittags bereits ein Waschfass aufgestellt worden. „Tubben“ hieß das große hölzerne Fass. Dieses Fass wurde mit warmem Wasser gefüllt, und dahinein mussten wir dann steigen. Mutter, Großmutter, oder eine der Tanten übernahm dann die „große Wäsche“. Hatten wir uns von dieser Prozedur genügend erholt, wurden wir in unsere Sonntagsanzüge gesteckt; und wenn die Kirchenglocken begannen, ihre Schäfchen zu rufen, ging‘s hinaus in die eisige Kälte und rein in die nur mäßig geheizte Kirche. Am im Inneren aufgestellten Weihnachtsbaum brannten die Kerzen, und andächtig lauschten alle, Jung und Alt, den Worten des Pastors, der laut und vernehmlich sagte: „Wahrlich, ich verkünde Euch große Freude: Der Heiland ist geboren!“

Und die Freude darüber war groß und ließ die Herzen aller Gläubigen, die sich in der Kirche versammelt hatten, höher schlagen. Festlichen Glanz in den Augen, sangen sie aus vollen Kehlen, vom Dorfschullehrer auf der alten Orgel begleitet, dass es weithin bis auf die Straße hallte: „Stille Nacht, heilige Nacht …“

Wer nun glaubt, nach dem Kirchgang fände endlich die Bescherung statt, der irrt. Weihnacht ist erst morgen! Und man stelle sich vor, trotz der Aufregung und aller Erwartung hat keiner, nicht einmal einer der Erwachsenen, gehört oder gesehen, dass der Weihnachtsmann in der Nacht gekommen war. Die Erwachsenen taten jedenfalls so, als wären sie darüber nicht minder erstaunt, als wir. Es gab wenig an Geschenken. Meist nur das, was ohnehin fällig gewesen wäre zu kaufen: etwas anzuziehen. Wesentlich anders sah‘s auch bei der Großmutter nicht aus. Das Zimmer war größer, der Weihnachtsbaum war größer, aber auch die Familie war größer. Analog mussten die Geschenke entsprechend kleiner ausfallen. Aber irgendein Spielzeug für uns Kinder war immer dabei.

Nachmittags wurden die spärlichen Geschenke von den Paten geholt. Hier ein Hemd, da ein Paar Strümpfe, Kleinigkeiten eben. Aber wir waren ja auch sehr anspruchslos. Genutzt hätte es uns jedenfalls nichts, wären wir‘s nicht gewesen. Ich wage auch nicht zu behaupten, dass bei uns Neid aufgekommen wäre, wenn wir die Geschenke anderer Kinder sahen. Der eine hatte ein großes Schaukelpferd bekommen, der andere eine richtig funktionierende Dampfmaschine. Für uns waren das unerfüllbare Wünsche und deshalb wurden sie auch gar nicht erst geäußert. Es genügte uns schon, wenn wir beim Besuch der reicher beschenkten Kinder, uns für kurze Zeit mit deren Spielzeug beschäftigen durften.

Feierlich war sie schon, die ganze Weihnachtszeit. Bereits vor den Feiertagen, an den Feiertagen selbst, sowie an den Abenden danach, wurden in der Familie gemeinsam viele Weihnachtslieder gesungen und Geschichten erzählt. Mit dem Älter- und Erwachsenwerden wurde das allerdings weniger. Aber trotzdem gab es nicht einmal annähernd den Versuch, sich der Familientradition zu entziehen.

Weihnachtszeit war, solange der Weihnachtsbaum im Zimmer stand. Und der wurde nie vor dem sechsten Januar entfernt. Bei Großmutter stand er noch sehr viel länger. Das große Zimmer wurde ja nicht täglich beheizt, darum hielt es der Baum auch länger aus, ehe er begann, alle seine Nadeln abzuwerfen. Hinzu kam noch, dass der Baum frühestens zwei Tage vor Weihnachten aus dem eigenen Wald geholt wurde. Heutzutage sind die Bäume ja bereits vier Wochen alt, ehe sie als Weihnachtsbaum ins Zimmer kommen.