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  2. Erinnerungen an die Kindheit und Jugend auf dem Bauernhof  
  u. Zeitgeschichtliche Einflüsse (Teil 3) - 1939, der Krieg beginnt  

August 1939. Die Stadt Perleberg feiert. 700 Jahre Perleberg.

Zu dieser Zeit lebte ich mit den meisten Menschen meiner Umgehung so dahin. Keine Ahnung davon, was uns unmittelbar bevorstand. Lediglich hinter vorgehaltener Hand wagte der eine oder andere über die Möglichkeit eines Krieges zu sprechen. Allerdings wurde das nicht sehr ernst genommen. Zumindest nicht von meiner Generation.
Selbst diejenigen, die sich mit der Politik des „Großdeutschen Führers“ so identifizierten, als sei sie ihre eigene Erfindung, glaubten wohl daran, dass das so gepriesene „Tausendjährige Reich“ […] in keiner Weise und durch nichts zu erschüttern sei, und die „Weltordnung“, ihre Weltordnung, so lange heil bliebe, wie sie von faschistischen Deutschen oder von deutschen Faschisten, aufrechterhalten wurde.
Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt! Danach hatten sich gefälligst alle anderen Völker der Welt zu richten!
Waren die anderen denn überhaupt Völker mit einer Lebensberechtigung? Sehr viel hatten wir in der Schule über deren Existenz und ihre Existenzberechtigung nicht gelernt. Folglich hatten wir uns über solche Fragen auch nicht unnütze Gedanken zu machen. Es war doch mit Österreich und mit dem Sudetenland alles so verlaufen, dass an einer weiteren „friedlichen Vergrößerung des Großdeutschen Reiches“ nicht zu zweifeln war. Wozu sich also Sorgen machen?
Die Wörter „Opposition“ oder gar „Widerstand“ gab es nicht im Sprachschatz dessen, was wir in der Schule gelernt hatten. Predigte doch selbst der Herr Pfarrer in der Kirche: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Amen.“
War es denn nun wirklich so, wurde tatsächlich alles so gelassen hingenommen, als an diesem ersten Septembermorgen 1939 verkündet wurde: „Die deutsche Wehrmacht schlägt zurück.“ Es ist Krieg! Jubel und Begeisterung im Volke?

Ich hatte Angst an diesem Morgen.
Mit dieser Angst war ich nicht allein. Sehr viele Menschen teilten sie mit mir. Alles war so bedrückend. Die Stille. Diese unheimliche Stille! So als wäre plötzlich die ganze Welt gestorben. Kein Vogel sang! Ja, selbst der Wind schwieg an diesem Morgen. Totenstille. Vorahnung kommenden Unheils. Die Tränen der Frauen und Mütter. Mutters Tränen.
Alles war so ganz anders an diesem Morgen. Nichts stimmte mit dem überein, was wir in der Schule immer wieder gehört hatten, dass die Männer freudigen Herzens ihre Familien verließen und zu den Waffen eilten: „Das Vaterland ruft!“ Dass die Frauen und Mädchen Tücher schwingend am Wege stünden, und die Kinder jubelnd den sich in Bewegung setzenden Marschgruppen folgten. Nichts! Nichts stimmte! Ich sah nur Tränen an diesem Morgen. Viele Tränen. Noch an vielen Morgen. 2075 solcher Morgen sah dieser Krieg!

An diesem ersten Tag musste, womit überhaupt niemand gerechnet hatte, auch Vater einrücken. Er wurde zum Landsturmmann gemacht. Niemand war darauf vorbereitet. Nicht einmal ein passender Koffer für das Handgepäck war im Hause. Musste ich noch vor meiner Arbeit nach Groß Buchholz fahren, von meiner Tante einen Koffer auszuleihen. Oder sollte man immer auf solche Eventualitäten vorbereitet sein? Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges war mein Vater erst 17 und damit noch zu jung für den Krieg. Nunmehr war er bereits 42, für den aktiven Wehrdienst zu alt. Dennoch wurde ihm befohlen, die Uniform anzuziehen.
Nach zwei Jahren durfte er sie dann wieder an den Nagel hängen, weil er nun als „nicht mehr kriegsverwendungsfähig“ ausgemustert wurde. Die Freude über die Heimkehr war so groß und gewaltig, dass im Jahr darauf, 1942, sich die Familie durch die Geburt meiner Schwester vergrößerte. Eine Schwester! Wunderbar!
Dennoch: Ein Kind, das nicht das Glück hatte, seine ersten Lebensjahre im Frieden zu leben. […]