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  2. Erinnerungen an die Kindheit und Jugend auf dem Bauernhof  
  t. Zeitgeschichtliche Einflüsse (Teil 2)  

SIEWERT und STEMPMANN

Ich weiß nicht, ob wir phantasiebegabte Jungen waren, mein Bruder Gerhard und ich. Die Personen „Willem Siewert“ und „Willem Stempmann“ waren jedenfalls unserer Phantasie entsprungene Geschöpfe, die zu allem herhalten mussten. Mal waren sie bäuerliche Nachbarn, mal vertraten sie rivalisierende Anhänger der damals etablierten Parteien und politischen Richtungen. Das war noch, bevor Hitler die Macht an sich riss.
Waren wir Bauern, begrüßten wir uns mit „Dag, Siewert“ – „Dag, Stempmann“, (Dag = Guten Tag). Hatten wir‘s aber mit der Politik (wovon wir allerdings weniger Ahnung hatten, als Schwarzes unter den Nägeln war), dann begrüßten wir uns mit Heil Moskau, Heil Hitler, Heil Stahlhelm, je nachdem, welche Richtung wir augenblicklich vertraten. Weiß der Himmel, woher wir diese Begrüßungsformeln hatten, kein normaler Mensch begrüßte sich so! Aber Siewert und Stempmann waren ja auch keine normalen Menschen. Und vielleicht hatten sie auch nur diese abnormen Begrüßungsformeln erfunden, wie sie selbst Erfindungen unserer Phantasie waren.

Trotz aller Gegensätzlichkeiten, die durch die beiden verkörpert und dargestellt wurden, verliefen unsere Spiele stets friedlich und harmlos, während die raue Wirklichkeit ja entschieden anders aussah. Aber davon wussten wir so gut wie nichts. Das war eben nur was für Erwachsene. Wir wurden davon möglichst ferngehalten. Wenn wir dennoch einiges mitbekamen, mag das wohl seinen Grund darin gehabt haben, dass unter den männlichen Vertretern der Großfamilie die verschiedensten [gegensätzlichen] politischen Richtungen vertreten wurden.
Onkel Richard vertrat den Stahlhelm-Bund, eine Vereinigung ehemaliger Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges, Onkel Walter hatte sich Hitlers SA verschrieben und Onkel Martin gehörte einer SA-Reiterstaffel an. Kommunisten gab es nicht in der Familie.
Ich habe nie erlebt, dass es im Hause, trotz gegenteiliger politischer Ansichten, mehr als einen sachlich geführten Disput darüber gegeben hätte. Das war eben ein christliches Haus. Die Politik hatte draußen zu bleiben.
Nachdem Hitler 1933 gewählt worden war, wurde uns [Kindern] eröffnet, dass Siewert und Stempmann sich nunmehr jedweder politischen Betätigung zu enthalten hätten. Sie durften nur noch Bauern sein. Man sagte uns: „Nu därm ji nich mer Heil Moskau un Heil Stahlhelm sengn, süss spunnt de Schandarm ju in.“ (Ihr dürft jetzt nicht mehr Heil Moskau und Heil Stahlhelm sagen, sonst sperrt Euch der Gendarm ein.)
Das wollten wir aber nicht.
Ich vermute, die beiden, Siewert und Stempmann, sind aus ihrer Partei ausgetreten. Jedenfalls begrüßten sie sich fortan wieder wie alle andern Menschen mit „Dag“.