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  2. Erinnerungen an die Kindheit und Jugend auf dem Bauernhof  
  r. Erziehung und Bildung in der einklassigen Dorfschule (Teil 2)  

Unser Lehrer, Hermann Mielatz, war Jagdpächter und leidenschaftlicher Jäger.
Seine Schießkunst demonstrierte er uns manchmal auch während des Unterrichts. Vor dem Fenster des Klassenraumes standen ein paar Kirschbäume, in denen sich die Sperlinge gerne tummelten. Natürlich wussten wir um seine Leidenschaft und folgten mehr dem Geschehen im Kirschbaum als dem Unterricht. Wenn er dann plötzlich aufsprang und von nebenan, aus seiner Wohnung sein Schießeisen holte (meist einen Tesching oder ein Luftgewehr), dann war unsere Stunde gekommen. Unser Tag war gerettet. Meistens!
Manchmal schien er uns auch zu durchschauen. Dann war er einfach nicht von seinem Thema abzubringen. An diesen Tagen siegte in ihm der Lehrer über den Jäger oder aber die Pflicht über die Leidenschaft. Wenn aber durch einen gezielten Schuss ein Spatz vom Baume fiel und er mit stolzgeschwellter Brust vor uns stand, dann ging hier ein Finger hoch und dort meldete sich einer und jeder wusste über den Standplatz eines gerade jagdbaren Wildes zu berichten.
In solchen Augenblicken war er nur noch der Jäger. Und das nutzten wir schamlos aus.
An Wild gab es nicht wenig im Jagdrevier. Viele Hasen und Karnickel, Wildschwein und Reh, Rebhuhn, Fasan, Ente und Schnepfe. Reinicke Fuchs war natürlich auch vertreten.
An manchen Tagen bestellte er sich für den Nachmittag drei oder vier Jungen, die mit ihm auf die Pirsch gehen durften.

[...]

Eigentlich bin ich immer gern in die Schule gegangen.
Es gab aber auch Tage, da erschien sie mir lästig und überflüssig. Besonders dann, wenn unser Lehrer wegen Krankheit von einem anderen Pauker vertreten wurde. Da hatten wir einen alten Herrn aus dem Nachbardorf Rohlsdorf, Herrn Puls. Eigentlich war er schon pensioniert. Aber da sich kein anderer gefunden hatte, übernahm er die Vertretung. Meist kam er zu Fuß von Rohlsdorf herüber, denn der Weg, so an die fünf Kilometer, war zum größten Teil Sandweg. Da konnte es schon mal passieren, dass er nicht rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn da war. Für uns war das natürlich ein gefundenes Fressen. Alle Schüler liefen ihm bis auf Sichtweite entgegen, immer hoffend, dass er gar nicht kommt. Schon von Weitem, wenn er uns entdeckt hatte, fuchtelte er wie wild mit den Armen: „Macht dass Ihr zurückkommt!“ Natürlich waren wir, wie sich das für brave Schüler so gehört, vor ihm im Klassenraum und harrten mit Unschuldsmienen der Begrüßungszeremonie. Die aber verlief so, und immer wieder so: Herr Puls betrat den Klassenraum und brüllte: „Auf!“ Dann zog er aus seiner Brusttasche ein Taschentuch, wischte sich den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn, schnäuzte sich, steckte das Taschentuch fort und klatschte in die Hände. Dazu, als wär's eine Beschwörungsformel, brubbelte er vor sich hin: “Affige Gesellschaft“, und „Choral!“ Und was wir auch singen mochten, an der Stelle, an der der Pastor in der Kirche „Amen“ gesagt hätte, wiederholte er noch einmal seinen Zauberspruch: „Affige Gesellschaft“.
Manchmal wagten wir es laut über sein Gehabe zu lachen. Aber schlecht war er nicht, der Herr, der einer „affigen Gesellschaft“ vorstand.

Bedauern muss ich noch heute den armen Ziesenitz. Unter uns wurde er wegen seiner geringen Körpergröße „Radiergummi“ genannt. Durchsetzen konnte der sich nicht so recht.
Ich erinnere mich einer Episode, die mir wert scheint erwähnt zu werden.
Im Dorf hatte es Einquartierung gegeben. Soldaten! Ein großes Manöver stand bevor.
Wie immer waren wir am nächsten Morgen, trotz aller Soldaten, pünktlich in der Schule. Verständlicherweise verzögerte sich der Unterrichtsbeginn, denn nicht alle Tage waren Soldaten im Dorf und nicht alle Tage gab es ein Manöver. Das musste doch alles sehr genau verfolgt werden, was da so vorging, als die Truppe sich fertig machte für den Abmarsch. Wir Jungen schafften es, Radiergummi zu überreden und durften den Soldaten bis zum Dorfausgang folgen.
Aus dem Unterricht wurde an diesem Tage nichts. Vor lauter Begeisterung hatten wir wohl den Dorfausgang verpasst. Jedenfalls stellten wir am späten Nachmittag fest, dass wir zu weit gegangen waren. Wir befanden uns kurz vor dem Dorf Tüchen, im Kreis Ostprignitz. Und das „in höltn Tüffeln“ (Holzpantoffeln). Als wir dann gegen Abend wohlbehalten, aber äußerst vorsichtig die heimatlichen Gefilde betraten, gab es im Kreise der Familie erst einmal eine „Manöverbesprechung“, die mit einem handfesten Angriff auf unsern Allerwertesten endete.
Natürlich war, unserer Meinung nach, unser Lehrer Radiergummi an allem schuld. Er hätte uns doch zurückhalten müssen! Wir haben es ihm im wahrsten Sinne des Wortes später heimgezahlt.
Sonnabends war der [...] „Staatsjugendtag“. Den hatten die Nazis eingeführt. Alle der „Hitlerjugend“ und dem „Jungvolk“ angehörenden Schüler hatten keinen Unterricht. Sie machten stattdessen Wochenendschulungen und lernten exerzieren. An diesen Tagen waren wir nicht viel Schüler auf dem Schulhof. Was also lag näher, als den Radiergummi in unsere Pausenspiele mit einzubeziehen. Willig spielte er mit. Zu seinem Schaden, muss ich sagen.
Was waren das nun für Spiele, die damals modern waren? Ballspiele, Kreisspiele, Blinde Kuh! Sicher ist heute kein Kind mehr dazu zu bewegen, in den Schulpausen solche „Kinderspiele“ zu spielen.
An diesem Tage spielten wir „Blinde Kuh“. Dabei wollte es wohl der Zufall, dass dem Radiergummi die Augen verbunden wurden. Nach den ersten handfesten Beweisen unserer Zuneigung, die er unverdienterweise auf seinem prallen Hinterteil zu spüren bekam, endete das Spiel. Er hat aber nie erfahren, wer ihm so freundlich zugesprochen hatte. Er hat auch nie gefragt und sich auch nicht dafür gerächt. Er war doch ein feiner Kerl.

Dagegen war Herr Belitz, ein arger Pauker und SA-Mann aus Düpow, sehr unbeliebt. Wenn der einen Grund zum Prügeln suchte, fand er ihn auch. (Getreu dem Sprichwort: „Wer einen Hund prügeln will, findet auch immer einen passenden Knüppel“)
Auch bei mir fand er einen Grund, obwohl ich gerade bei ihm sehr vorsichtig war. Vielleicht deshalb?
Eines Tages schickte er mich in den Garten, drei Haselruten unterschiedlicher Stärke zu holen. Als gehorsamer Schüler tat ich das auch. Was anderes hätte ich wohl sonst tun sollen? Als ich ihm die drei Ruten präsentierte, fragte er recht scheinheilig, mit welchem der drei ich denn wohl im Falle eines Falles Prügel haben möchte, wenn ich dazu die Wahl hätte? In meinem Leichtsinn gab ich der schlanken Gerte den Vorzug. Unverzüglich gewährte er mir diese „Bitte“ und verprügelte mich. Ich weiß bis heute nicht, warum! Ich habe ihm das nie verziehen. Aber davon hatten wir beide nichts. Verständlich wäre es wohl gewesen, wenn dieser Art von Selbstbefriedigung seinerseits, ein Streich meinerseits vorausgegangen wäre, Faulheit oder eine andere Untat, die zu bestrafen wert gewesen wäre.
Beispielsweise, als wir dem Jagdhund des Gutsbesitzers Weinschenk, Konservenbüchsen mit Erbsen an seinen Stummelschwanz gebunden hatten, weil er sich überall herumtrieb.
Herr Mielatz fragte, was wir wohl sagen würden, hätte man das mit uns so gemacht? Ob er das wohl wirklich wissen wollte? Fast hatten wir Verständnis für seinen Zorn, als er uns auf dem Schulhof im Kreise herumlaufen ließ und jedem, der an ihm vorbeikam, eins mit seinem Rohrstock überzog. Das war uns jedoch allemal lieber, als dass er seine Drohung mit der Konservenbüchse wahrgemacht hätte.