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  2. Erinnerungen an die Kindheit und Jugend auf dem Bauernhof  
  q. Erziehung und Bildung in der einklassigen Dorfschule (Teil 1)  

Die Schulzeit ist die schönste Zeit - sagt man.
Mit sechseinhalb Jahren begann für mich der Ernst des Lebens, wie man ebenfalls zu sagen pflegt: Die Schulzeit begann.
Nicht etwa mit einer riesengroßen Schultüte, wie das heute so üblich ist, oh nein! Ich durfte mir mit einer Mitschülerin eine Tafel Schokolade teilen. Die hatte wohl unser Lehrer spendiert, weil es ihm Leid tat, dass wir beide die einzigen der drei Anfänger waren, die keine Schultüte hatten.
Schuhe gab er uns allerdings nicht, nahm aber auch keinen Anstoß daran, dass wir die Bildungsstätte mit „Höltentüffeln“ (Holzpantoffeln) betraten. Es gab ja keine Kleiderordnung und der Bildung tat es keinen Abbruch. Schließlich war ja der Kopf dazu ausersehen, die neuen Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten und nicht die Füße! Allerdings mussten wir im Laufe der Zeit auch die trübe Erfahrung machen, dass in manchen Situationen auch der Hintern sehr viel mit dem Lernen und Begreifen zu tun hatte.
Unser Lehrer machte sich kaum die Mühe, wenn einer mit dem Kopf nicht begriffen hatte, im herkömmlichen Sinne weiter zu versuchen, dem die Weisheit einzutrichtern. Dazu hatte er, seiner Meinung nach, ein vorzügliches Hilfsmittel: Den Rohrstock. Und in der Tat, was gutmütig nicht in den Kopf rein wollte, wurde mit Hilfe des Stocks über den strammgezogenen Hosenboden vermittelt. Aber diese Art der Wissensvermittlung war verdammt unangenehm. Weniger für den Lehrer als für uns.
Im Laufe der Zeit fanden wir heraus, dass es mindestens zwei Mittel gab, den Einsatz des Rohrstocks zu verhindern, ein taugliches und ein untaugliches Mittel. Das taugliche hieß Lernen, das untaugliche, das Präparieren des Rohrstocks. Dazu wurde der Rohrstock, wenn sein Einsatz zu befürchten war, in der Pause mit einer Zwiebel eingerieben. Bereits beim zweiten Schlag zersplitterte er.
Aber weiß der Teufel, der Lehrer musste ein ganzes Lager davon besessen haben, denn wenige Minuten später, wenn auf diese Weise Kleinholz gemacht worden war, war Ersatz da. (Sicher hat er immer gleich mehrere gekauft, weil sie wohl im Dutzend billiger waren.) Und weil man so viel Zwiebeln nicht mit in die Schule nehmen konnte, war das Präparieren des Stockes eben ein untaugliches Mittel.
Auf diese „Popo-läre“ Art hat mein Lehrer, Gott hab ihn selig, mir mal das Märchen vom „Tischlein-deck-Dich“ beigebracht. Das trug sich so zu: Wir sollten dieses Märchen nacherzählen und ich durfte, wie immer, damit beginnen. Am Anfang stimmte ja auch alles. Aber als er nun die Frage stellte, was denn der Müller seinem Lehrburschen zum Abschied schenkte, da sah ich vor meinen Augen eine Abbildung aus dem Lesebuch, wo der Müllerbursche mit einer Karre einen Sack Mehl durch die Gegend schob. Und prompt kam von mir die Antwort: „Einen Sack Mehl.“
Für mich war das logisch! Aber nicht für meinen Lehrer! Beim anschließenden Einbläuen des Märchens dachte ich dann weniger an den Tisch, der sich ständig selbst gedeckt haben soll, auch nicht an den dämlichen Esel, der es sich gefallen ließ, ständig am Schwanz gezogen zu werden und zur Belohnung auch noch goldene Taler fallen ließ. Ich dachte, wenn überhaupt, nur noch an den Knüppel, der nun auf meinem Hinterteil wütete. Zwangsläufig, weil ich seine Wirkung spüren konnte.
Ein anderes Mal hatte der Schulrat sich zu einem Besuch angemeldet. Alles war gut vorbereitet. Wer aber nicht kam, war der Herr Schulrat. Wir durften deshalb nachmittags noch einmal in die Schule kommen. Die Wartezeit wurde als eine Art Generalprobe genutzt.
Wir hatte kurz zuvor den Auftrag, das Gedicht vom November auswendig zu lernen. Das begann so: November! Solchen Monat muss man loben, keiner kann wie dieser toben, keiner so verdrießlich sein - und so ohne Sonnenschein! Natürlich durfte ich wieder einmal beginnen. Die Überschrift kannte ich genau - und so begann ich denn: „November … Ich weiß nicht, wie‘s anfängt.“
Lehrer : „Solchen Monat …“
Ich: „Solchen Monat muss man loben ... Ich weiß nicht, wie‘s weitergeht.“
Lehrer: „Keiner kann ...“
Ich: „Keiner kann wie dieser toben …“ Aus!
Gegen die Raserei meines Lehrers, so schätze ich, waren alle Novemberstürme der letzten hundert Jahre zusammengenommen, nicht mehr als ein leises Frühlingslüftchen.
Sofort wurde ich auf den letzten Platz versetzt. Das war eine Schmach!
Zum Glück wurde am nächsten Tag ein Diktat geschrieben (wir wurden oft nach Diktaten umgesetzt) und so konnte ich meinen alten Platz wieder einnehmen.
Streiche und Dämlichkeiten verzapften wir alle gern. Zur damaligen Zeit gab es noch reichlich Bettler, die von Tür zu Tür gingen und um Almosen bettelten. Die etwas Bessergestellten unter ihnen aber kamen mit Geige, Ziehharmonika oder mit einem Leierkasten.
Der Leierkastenmann schab seinen Karren die Dorfstraße entlang und dudelte seine Melodien, die so manches Herz erweichten. Wir hatten gerade Pause und da war es nur natürlich, dass alle Kinder zu ihm liefen.
„Duu, Duu, liegst mir im Herzen …“ hatte er gerade gespielt, als er sich für einen Moment von seinem Leierkasten entfernen musste, um eine milde Gabe in Empfang zu nehmen. Hat doch während dieser Zeit einer der verdammten Bengels an den Leierkastenknöpfen gedreht! Als der arme Alte weiterspielen wollte, hörte sich das nun so an: „Duahua, duahua liegst mir im pftpftpft … Natürlich veranlasste diese völlig neue Melodie unseren Lehrer, seinen berüchtigten Rohrstock dazu auf unsere Hinterteile tanzen zu lassen.
Aber auch recht harmlose Spielchen trieben wir gern. Jede Woche einmal kam Adolf Dierke aus Groß Gottschow mit seinem Fahrrad vorbei, um in die Stadt zu fahren. Ich will nicht sagen, dass er ein Sonderling war. Man erzählte von ihm, dass er seit seiner Jugendzeit keine Butter gegessen hätte, weil er angeblich gesehen haben wollte, dass die Butter mit den Füßen geknetet wurde. Natürlich war das Unsinn! Sicherlich genau so ein Ammenmärchen, wie das, was man uns Kindern immer von den Hunden in Buxtehude erzählte: „In Buxtehude bellen die Hunde mit dem Schwanz“. (Das tun sie ja bei uns auch!) Und so wird es auch sicher mit der Butterkneterei gewesen sein.
Krumm vornübergebeugt, radelte er so dahin, aus seiner Jackentasche immer einen Draht, der als Pfeifenreiniger diente, baumeln lassend. „Unkel Adolf, wat häst Du da an Dien Jack to bammeln, is dät Dien Piepnpurrer?“ (Onkel Adolf, was da aus deiner Jacke hängt, ist das ein Pfeifenreiniger?) Und Onkel Adolf parierte: „Nee Kinner, dät is mien Säwel!“ (Nein Kinder, das ist mein Säbel).
Eine im wahrsten Sinne des Wortes etwas anrüchige Geschichte fällt mir da noch ein:
In unserer kleinen Schule wurden alle Jahrgänge gemeinsam unterrichtet. Der Unterrichtsbeginn war für die verschiedenen Jahrgänge zeitlich gestaffelt. So mussten wir eben bis zur Pause draußen vor der Schule warten. Die Mädchen hatten das Handgeländer am Treppenaufgang meistens für sich in Beschlag genommen. Darauf saßen sie wie die Hühner auf der Stange. Natürlich wollten wir für uns das gleiche Recht. Was also war zu tun? Eine kurze Beratung und schon war die Idee geboren: „Wir reiben die Stange mit Pferdeäppeln ein!“
Die Wirkung war enorm! Und nicht nur bei den Mädchen, auch unser Lehrer rümpfte verächtlich die Nase. Die Quittung erfolgte erwartungsgemäß mit seinem Rohrstock.
Die Mädchen aber setzten sich lange Zeit nicht mehr auf diese Stange. Ein Sieg also für uns! Oder etwa doch nur ein Pyrrhussieg? Darüber lange nachzudenken, war jedoch müßig. Für uns war ein Sieg eben ein Sieg. Ob und wie teuer wir dafür zu zahlen hatten, kratzte uns wenig. Den Preis bestimmten ja ohnehin nicht wir, sondern unser Lehrer.

Ich muss ehrlich gestehen, dass er es mit uns Schulneulingen zunächst gar nicht so leicht hatte. Mussten wir doch in gewissem Sinne vom ersten Tage an eine „Fremdsprache“ erlernen: Deutsch! Bis dahin hatten wir ja fast ausschließlich Platt gesprochen. Kindergarten oder Vorschule, wo mit dem Hochdeutschen schon nähere Bekanntschaft gemacht worden wäre, gab es nicht. Die Eltern und andere Erwachsene beherrschten natürlich das Hochdeutsche. Aber die Umgangssprache war eben Platt. Und das blieb auch so während der gesamten Schulzeit.
Manchmal gab‘s schon Schwierigkeiten. So war es gar nicht so einfach, mir und mich oder dir und dich auseinander zu halten. In unserm Platt gibt es nämlich nur drei Fälle: Mir und mich heißt auf Platt „mi“, dir und dich, “di“. Ein Beispiel: Gib mir, frag mich, heißt auf Platt = giv mi, frog mi. Der weise Satz, „Wetst Du nich wat richtig is, ob mir oder mich, segg op Platt blot mi, denn verwesselst Du dät nie,“ hatte zwar was Wahres, aber anfangen konnte man damit in der Schule überhaupt nichts. Da war nur Hochdeutsch angesagt.

Als Schulanfänger hatten wir auch noch keinen Einfluß auf den Papierverbrauch. In den ersten beiden Jahren benutzten wir eine Schiefertafel an Stelle von Heften. Mit einem Griffel, der täglich ein-/ zweimal gespitzt wurde, schrieben wir auf der Tafel unsere ersten Buchstaben. Man hatte den Vorteil, dass sich alles mit einem feuchten Schwamm einfach auslöschen ließ, wenn‘s mal nicht gut geraten war. Ein Nachteil des Gebrauchs der Tafel war meines Erachtens darin zu sehen, dass die Hand schwer und ungelenk blieb, denn ein wenig aufdrücken musste man schon mit dem Griffel, damit auch leserlich war, was man mühselig zu „Schiefer“ gebracht hatte.
In den ersten Jahren wurde uns die deutsche Schreibschrift beigebracht. Diese Schrift kann heute kaum noch einer lesen, geschweige denn schreiben. Danach wurde die „Lateinzeit“ eingeführt. Nicht etwa die Sprache, mit der gab man sich in der Volksschule nicht ab, aber die Lateinschrift. Nach dem Kriege wurde dann die heutige Schrift eingeführt.

Ich erwähnte schon, dass die Platzordnung in unserer Schule vom Können abhängig war. So gesehen, konnte man die Platzordnung auch als Rangordnung sehen: Der beste Schüler nahm immer den ersten Platz ein. Versetzt oder umgesetzt wurde laufend. Vorwiegend dienten die Diktate als Gradmesser für erbrachte Leistungen, natürlich unter Berücksichtigung der Leistungen in allen anderen Fächern. Wer einmal die besten Plätze erreicht hatte, entwickelte meist auch den gesunden Ehrgeiz, durch Fleiß und Zielstrebigkeit diese Position zu halten. Ob diese Methode der Weisheit letzter Schluss war, vermag ich nicht zu beurteilen. Fest steht jedoch, dass wir alle dabei etwas gelernt haben. Wie sagt man doch so schön? Der Zweck heiligt die Mittel!

Meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, unterstellte ich ihr, sie hätte uns Jungen jemals geprügelt, ohne einen handfesten Grund gehabt zu haben. Wenn ich daran denke, wie sehr sie sich Mühe gab, uns die Rechtschreibung beizubringen. Sicher empfanden wir ihre drastischen Methoden als sehr hart. Aber ich muss zugeben, sie waren äußerst wirksam. Sie nahm sich oft und viel Zeit für uns. Hatten wir in der Schule ein Übungsdiktat geschrieben, wurde das gleiche Diktat zu Hause so lange geübt, bis auch der letzte Flüchtigkeitsfehler beseitigt war. Viel lieber hätten wir natürlich draußen herumgetollt! Aber Mutters Devise: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen,“ war unbedingt zu respektieren. Das war auch gut so. Leider ist es ja auch heute noch so, dass die Einsicht in die Notwendigkeit oft erst recht spät erfolgt.